Die Vorfahrtsregel des § 18 Abs. 3 StVO (Straßenverkehrsordnung), nach der der Verkehr auf der durchgehenden Fahrbahn Vorfahrt vor Fahrzeugen hat, die auf die Fahrbahn auffahren wollen, gilt auch bei sog. „Stop-and-Go-Verkehr“. Erst wenn der Verkehr auf der durchge-henden Fahrbahn in der Weise zum Stehen gekommen ist, dass mit einer erneuten Fahrbewegung in kürzerer Frist nicht zu rechnen ist, findet diese Vorfahrtsregelung keine Anwendung mehr. Fahrzeugfüh-rer, die in dieser Situation auf die Fahrbahn einer Autobahn aufgefah-ren, haben aber das Rücksichtnahmegebot des § 1 Abs. 2 StVO zu beachten. Unter Hinweis auf diese Rechtslage hat der 4. Senat für Bußgeldsachen des Oberlandesgerichts Hamm am 03.05.2018 das erstinstanzliche Urteil des Amtsgerichts Siegen vom 19.01.2018 (Az. 431 OWi 731/17 AG Siegen) aufgehoben und die Bußgeldsache zu erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht zurückverwiesen.
Der seinerzeit 45 Jahre alte Betroffene aus Ludwigshafen wollte im Mai 2017 mit einem PKW BMW vom Rasthof Siegerland auf die Autobahn A 45 in Fahrtrichtung Frankfurt am Main auffahren. Auf der Autobahn staute sich der Verkehr. Vor dem Betroffenen fuhr ein weiterer PKW, dem es gelang, in eine Lücke zwischen zwei Sattelzügen auf die rechte durchgehende Fahrbahn aufzufahren. Der PKW musste dann wegen des vor ihm stehenden Sattelzuges anhalten. Der Betroffene konnte nicht vollständig auf die Fahrbahnspur wechseln und blieb schräg zwischen dem Beschleunigungsstreifen und der rechten Fahrbahn stehen. Beim Anfahren übersah ihn der nachfolgende Sattelzug. Es kam zum Zusammenstoß beider Fahrzeuge, ohne dass Personenschaden entstand.
In dem gegen den Betroffenen geführten Bußgeldverfahren hat das Amtsgericht Siegen den Betroffenen wegen fahrlässiger Nichtbeachtung der Vorfahrt auf der durchgehenden Fahrbahn – Verstoß gegen § 18 Abs. 3 StVO – zu einer Geldbuße von 110 € verurteilt. Der Betroffene sei, so das Amtsgericht, wartepflichtig gewesen. Er habe seinen „Überholvorgang“ zu einem Zeitpunkt begonnen, zu dem er nicht mit Sicherheit habe sagen können, dass er ihn vollständig beenden können würde. Damit habe er das „Überholen“ des vorfahrtsberechtigten Sattelzuges erzwingen wollen, eine vorherige Verständigung mit dem Fahrer dieses Sattelzuges habe nicht stattgefunden.
Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das erstinstanzliche Urteil war vorläufig erfolgreich. Nach der Zulassung der Rechtsbeschwerde zur Fortbildung des Rechts hat der 4. Senat für Bußgeldsachen des Oberlandesgerichts Hamm die angefochtene Entscheidung aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht zurückverwiesen.
Die bisherigen Feststellungen ergäben keinen Verstoß gegen § 18 Abs. 3 StVO, so der Senat.
Das Amtsgericht gehe zwar zutreffend davon aus, dass der auf eine Autobahn Auffahrende das Vorfahrtsrecht des fließenden Verkehrs zu beachten habe, und zwar auch dann, wenn zähfließender Verkehr oder staubedingt „Stop-and-Go-Verkehr“ herrsche. Wie schon die gesetzliche Formulierung „Vorfahrt“ zeige, müsse allerdings ein Mindestmaß an Bewegung im Verkehr auf der durchgehenden Fahrbahn der Autobahn herrschen, da ansonsten nicht von einer „Fahrt“ gesprochen werden könne. Stehe der Verkehr auf der durchgehenden Fahrbahn, gebe es keine „Vorfahrt“, die Vorrang haben könne.
Das bedeute allerdings nicht, dass schon bei jeglichem verkehrsbedingten Halt auf der durchgehenden Fahrbahn – und sei er zeitlich auch noch so kurz – bereits die Vorfahrtsregelung des § 18 Abs. 3 StVO keine Geltung mehr beanspruchen könne. Erst wenn der Verkehr auf der durchgehenden Fahrbahn in einer Weise zum Stehen gekommen sei, dass mit einer erneuten Fahrbewegung in kürzerer Frist nicht zu rechnen sei, sei das der Fall.
Nach den Feststellungen des Amtsgerichts habe der Sattelzug hinter dem Betroffenen gestanden, ohne dass das Amtsgericht konkrete Feststellungen zur Dauer dieser Standzeit getroffen habe. Aus der Beweiswürdigung ergebe sich allerdings, dass der als Zeuge vernommene Fahrer des Sattelzuges bekundet habe, dass er etwa 3-4 Minuten gestanden habe. Sollte tatsächlich eine so lange Standzeit geherrscht haben, so habe der Betroffene die Vorfahrt des Sattelzuges nicht missachten können. Dabei mache es für die Regelung des §18 Abs. 3 StVO keinen Unterschied, ob der Betroffene bereits ganz oder nur teilweise auf der Fahrbahn eingefädelt gewesen sei.
Das Amtsgericht habe daher in der neuen Verhandlung aufzuklären, inwieweit sich der Lkw in einer Fahrbewegung befunden habe, als der Betroffene mit seinem Fahrzeug von der Beschleunigungsspur auf die rechte Fahrbahn gewechselt sei. Dabei sei gglfs. auch aufzuklären, ob der Betroffene gegen § 1 Abs. 2 StVO verstoßen habe, weil er so dicht vor dem (stehenden) Sattelzug auf den rechten Fahrstreifen aufgefahren sei, dass dessen Fahrer ihn wegen des sog. „toten Winkels“ eines LKW-Fahrers nicht unmittelbar habe wahrnehmen können.
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