Für die rechtliche Einordnung einer Verkehrsfläche als Grundstücksausfahrt im Sinne von § 10 Straßenverkehrsordnung (StVO) oder als Einmündung einer Straße im Sinne von § 8 Abs. 1 Satz 1 StVO ist allein deren nach außen in Erscheinung tretende Verkehrsbedeutung maßgeblich. Ausbau und Gestaltung der Verkehrsfläche sind allein nicht entscheidend, können allerdings als äußere Kriterien Anhaltspunkte für die – maßgebliche – Verkehrsbedeutung sein. Schwierigkeiten bei der Erkennbarkeit der Verkehrsbedeutung können von den Beteiligten eine gesteigerte Sorgfalt erfordern und insoweit im Rahmen der subjektiven Haftungsvoraussetzungen zu berücksichtigen sein.
Ausgehend von dieser Rechtslage hat der 9. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Hamm – nach der Bewertung einer in Werne gelegenen Verkehrsfläche – wechselseitige Berufungen zweier an einem Verkehrsunfall beteiligter Parteien gegen das erstinstanzliches Urteil des Landgerichts Dortmund vom 08.03.2017 (Az. 21 O 361/16) als erfolglos eingeschätzt. Das hat die Parteien in der mündlichen Berufungsverhandlung vom 05.12.2017 dazu veranlasst, die eingelegten Rechtsmittel zurückzunehmen.
Der Kläger aus Hamm und die – neben ihrem Haftpflichtversicherer – Beklagte aus Werne hatten ihre jeweiligen Fahrzeuge in der Nähe einer Turnhalle abgestellt, die am Werthweg gegenüber der Boymerstraße in Werne gelegen ist. Der Kläger parkte mit seinem Skoda Octavia auf den am Werthweg gelegenen Parkplatz, die Beklagte mit ihrem Mercedes Vaneo auf dem Parkplatz unmittelbar vor der Turnhalle.
Beim Verlassen des Parkplatzes befuhr der Kläger den Werthweg und passierte die – mit der gegenüber liegenden Einmündung der Boymerstraße – wie eine Straßenkreuzung ausgestaltete, unbeschilderte rechtsseitige Zufahrt zur Turnhalle. Auf dieser näherte sich die Beklagte mit ihrem Fahrzeug.
Die Beklagte hielt sich nach der Vorfahrtsregel „rechts vor links“ für vorfahrtsberechtigt. Zugleich ging der Kläger von der Beklagten als einer sich aus einer Grundstücksausfahrt nähernden Verkehrsteilnehmerin und dementsprechend von seiner Vorfahrt aus. Da weder der Kläger noch die Beklagte dem jeweils anderen Verkehrsteilnehmer den Vorrang einräumten, stießen beide Fahrzeuge im Einmündungsbereich zusammen.
Dem ihm entstandenen Schaden in Höhe von insgesamt ca. 13.000 Euro hat der Kläger von der Beklagten und ihrem Haftpflichtversicherer im vorliegenden Rechtsstreit ersetzt verlangt.
Die Klage war in erster Instanz zu 2/3 erfolgreich. Das Landgericht hat dem Kläger ca. 8.600 Euro Schadensersatz zugesprochen.
Die Berufung des Klägers gegen dieses Urteil, mit der er 100-prozentigen Schadensersatz begehrt hat, sowie die Berufung der Beklagten und ihres Haftpflichtversicherers, die vollständige Klageabweisung begehrt haben, waren erfolglos.
In der mündlichen Berufungsverhandlung hat der 9. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Hamm die Parteien darauf hingewiesen, dass das Landgericht die Verursachungsbeiträge beider Parteien am Unfallgeschehen zutreffend bewertet hat.
Die Beklagte sei, so der Senat, aus einem Grundstück auf eine öffentliche Straße gefahren. Dabei habe sie gemäß § 10 StVO höchste Sorgfalt walten lassen und eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausschließen müssen. Dem klägerischen Fahrzeug gegenüber sei sie daher wartepflichtig gewesen. Die von ihr befahrene Abzweigung mit einer Länge von ca. 10 m führe allein zu der nur wenige Meter von der Straßenfront zurückliegenden Sporthalle. Sie diene deren Erreichbarkeit und nicht dem fließenden Verkehr. Wenn die Beklagte, der die Örtlichkeit im Unfallzeitpunkt seit ca. zwei Jahren bekannt gewesen sei, dies anderes bewertet habe, sei dies ein für ihre Haftung unbeachtlicher subjektiver Erlaubnisirrtum. Insoweit trage sie das Risiko einer rechtsfehlerhaften Beurteilung der Vorfahrtsituation.
Obgleich der Verstoß gegen § 10 StVO im Regelfall zur alleinigen Haftung des sich regelwidrig verhaltenden Fahrers führe, begründeten die besonderen Umstände des vorliegenden Falls eine Mithaftung des Klägers. Aufgrund der örtlichen Gegebenheiten, die den Einmündungsbereich wie eine Kreuzung erscheinen ließen, habe der vorfahrtsberechtigte Kläger damit rechnen müssen, dass sein Vorfahrtsrecht von der Beklagten aufgrund der örtlichen Gegebenheiten nicht erkannt werde. Deswegen habe er seine Fahrweise auf eine mögliche Missachtung des Vorfahrtsrechts ausrichten und durch die Aufnahme von Blickkontakt zu der sich nähernden, wartepflichtigen Beklagten absichern müssen. Dies sei im vorliegenden Fall nicht geschehen und rechtfertige den mit einem Drittel zu bewertenden Mitverursachungsanteil des Klägers am Unfallgeschehen.
Nach der mitgeteilten Beurteilung der Sach-und Rechtslage durch den Senat haben beide Parteien durch die Rücknahme ihrer jeweiligen Berufung den Rechtsstreit beendet. Das angefochtene Urteil des Landgerichts Dortmund hat damit Bestand.
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