OLG Hamm, Beschluss vom 24.02.2025, AZ 7 U 132/23
Ausgabe: 02-2025
• 1.
Wird eine Person in ihrer Rolle als Fahrerin eines Kraftfahrzeugs und ihrer Rolle als Sorgeverpflichtete verklagt, kann es sich – wie hier – um zwei Streitgegenstände handeln (in Anwendung von BGH, Urteil vom 18.11.2024 – VI ZR 10/24, GRUR-RS 2024, 31967 Rn. 17; BGH, Urteil vom 25.06.2020 – I ZR 96/19, GRUR 2020, 1226 Rn. 23 ff.; BGH, Urteil vom 22.10.2013 – XI ZR 42/12, NJW 2014, 314 Rn. 15).
• 2.
Wird der Klage gegen eine Person im Hinblick auf ihre Rolle als Sorgeverpflichtete im Wege eines (Teil-)Urteils rechtskräftig stattgegeben, die Klage im Übrigen aber gegenüber dieser Person im Hinblick ihre Rolle als Fahrerin rechtskräftig abgewiesen, da insoweit keine Berufung eingelegt wird, steht dies im Berufungswege geltend gemachten Ansprüchen gegen Halter und Versicherer nach § 124 Abs. 1 VVG entgegen (in Fortschreibung zu BGH, Urteil vom 27.04.2021 – VI ZR 883/20, r+s 2021, 388 Rn. 7; BGH, Urteil vom 13.12.1977 – VI ZR 206/75, BGHZ 71, 339 = juris Rn. 41; BGH, Urteil vom 12.03.2019 – VI ZR 277/18, NJW 2019, 2397 Rn. 23; BGH, Urteil vom 15.01.2008 – VI ZR 131/07, r+s 2008, 167 Rn. 7; BGH, Urteil vom 14.07.1981 – VI ZR 254/79, r+s 1982, 8 = juris Rn. 10, 14).
• 3.
Eine sorgeverpflichtete Person kann – wie hier – Verantwortliche für den Aussteigevorgang eines Minderjährigen im Sinne des § 14 Abs. 1 StVO sein (im Anschluss an OLG Hamm vom 20.11.1962 – 3 Ss 1035/62, DAR 1963, 306).
• 4.
Die Sorgfaltsanforderungen beim Aussteigen gelten für die gesamte Dauer eines Aussteigevorgangs, also für alle Vorgänge, die in einem unmittelbaren zeitlichen und örtlichen Zusammenhang damit stehen, wobei der Vorgang des Aussteigens mit dem Schließen der Fahrzeugtüre und dem Verlassen der Fahrbahn beendet ist, was auch – wie hier – der Fall ist, wenn ein Minderjähriger in Richtung eines Fußwegs aussteigt, die Tür schließt und erst anschließend das Fahrzeug umrundet und auf die Straße läuft (in Fortschreibung zu BGH, Urteil vom 06.10.2009 – VI ZR 316/08, r+s 2009, 520 Rn. 11; OLG Saarbrücken, Urteil vom 05.07.2024 – 3 U 16/24, BeckRS 2024, 16771 Rn. 9 f.).
• 5.
Betrieb im Sinne von § 7 Abs. 1 StVG und Gebrauch im Sinne von § 1 PflVG (AKB A.1.1.1 und Art. 3 KfzHPflV-RL 2021/2118) des Aussteigevorgangs wirken nach Beendigung des Aussteigevorgangs in einem solchen Fall unabhängig von einem Verstoß gegen § 14 Abs. 2 StVO nicht haftungsbegründend fort (in Anlehnung an BGH, Urteil vom 16.01.2024 – VI ZR 385/22, r+s 2024, 560 Rn. 17 ff.; BGH, Urteil vom 22.11.2016 – VI ZR 533/15, r+s 2017, 95 Ls.; OLG Hamm, Urteil vom 09.05.2023 – 7 U 17/23, r+s 2023, 1020 Ls. 1 und 3; OLG Hamm, Beschluss vom 10.03.2022 – 7 U 3/22, NJOZ 2022, 1286 Ls. 1).
• 6.
Ein Halten an engen Stelle im Sinne des § 12 Abs. 1 Nr. 1 StVO, also einer Stelle, an der ein gefahrloses Vorbeifahren unter Berücksichtigung der Sicherheitsabstände und der höchstzulässigen Breite im Sinne des § 32 Abs. 1 Satz 1 StVZO zu beiden Seiten nicht oder nicht mehr ohne ungewöhnliche Schwierigkeiten möglich ist (im Anschluss an OLG Düsseldorf, Urteil vom 20.04.2021 – 1 U 122/20, r+s 2021, 352 = juris Rn. 29), liegt – wie hier – nicht allein deshalb vor, weil auf einer zweispurigen innerörtlichen Straße nach dem Halten (oder Parken) nur noch eine Fahrspur für beide Richtungen verbleibt.
• 7.
Ein Halten an unübersichtlicher Stelle im Sinne des § 12 Abs. 1 Nr. 1 StVO, also einer Stelle, an der ein Fahrzeugführer wegen sichtbehindernder Umstände den Verkehrsverlauf nicht so vollständig überblicken kann, dass er bei normaler Aufmerksamkeit alle Hindernisse und Gefahren erkennen und ihnen rechtzeitig begegnen kann, liegt – wie hier – nicht allein deshalb vor, weil ein haltendes (oder parkendes) Fahrzeug den Blick auf Fußgängerquerverkehr einschränkt.
• 8.
Betrieb im Sinne von § 7 Abs. 1 StVG und Gebrauch im Sinne von § 1 PflVG (AKB A.1.1.1 und Art. 3 KfzHPflV-RL 2021/2118) des haltenden (oder parkenden) Fahrzeugs wirken sich bei ordnungsgemäßem Halten (oder Parken) nicht haftungsbegründend aus, wenn das haltende (oder parkende) Fahrzeug den Blick auf Fußgängerquerverkehr einschränkt (in Anlehnung an BGH, Urteil vom 16.01.2024 – VI ZR 385/22, r+s 2024, 560 Rn. 17 ff.; BGH, Urteil vom 22.11.2016 – VI ZR 533/15, r+s 2017, 95 Ls.; OLG Hamm, Urteil vom 09.05.2023 – 7 U 17/23, r+s 2023, 1020 Ls. 1 und 3; OLG Hamm, Beschluss vom 10.03.2022 – 7 U 3/22, NJOZ 2022, 1286 Ls. 1).
• 9.
Eine sorgeverpflichtete Person kann der sorgeberechtigten Person – wie hier – gemäß § 1664 Abs. 1 BGB zur Haftung verpflichtet sein, wenn die verpflichtete Person die berechtigte Person ohne hinreichende Überwachung oder Anleitung eine Straße hinter einem haltenden Fahrzeug überqueren lässt (in Anwendung von BGH, Urteil vom 19.01.2021 – VI ZR 210/18, VersR 2021, 452 Rn. 8 ff.).
• 10.
Legt die sorgeverpflichtete Person einen subjektiven Sorgfaltsmaßstab nach § 1664 Abs. 1, § 277 BGB nicht dar, haftet sie nach allgemeinen Grundsätzen und damit für einfache Fahrlässigkeit (im Anschluss an BGH, Urteil vom 19.01.2021 – VI ZR 210/18, VersR 2021, 452 Rn. 14).
• 11.
Verstöße allein, d. h. ohne Verstoß gegen die StVO, gegen § 1664 Abs. 1, § 1626 Abs. 1, § 1631 Abs. 1 BGB begründen in aller Regel – so auch hier – keinen Betrieb im Sinne von § 7 Abs. 1 StVG und keinen Gebrauch im Sinne von § 1 PflVG (AKB A.1.1.1 und Art. 3 KfzHPflV-RL 2021/2118), so dass insbesondere eine Haftung des Versicherers aus § 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VVG ausscheidet.
Weitere Informationen: https://nrwe.justiz.nrw.de/olgs/hamm/j2024/7_U_…